Berlin im Jahr 1926. In Reih und Glied aufgestellt warten die Fahrräder in den Lagerkammern des städtischen Leihhauses darauf, von ihren Besitzern ausgelöst zu werden. Dieses Bild ist nicht nur Ausdruck der allgemeinen Not in den Vorjahren der Weltwirtschaftskrise. Es erzählt gleichermaßen von den Einbußen im Alltagsleben des kleinen Mannes, dem durch die Verpfändung seines Fahrrads die Arbeitsgrundlage entrissen wurde.

Pedale in Nahaufnahme, rollende Räder, die Wege der Radler kreuzen sich. In der Anfangsszene des von Bertolt Brecht geschriebenen Films 'Kuhle Wampe' (1932) wird, untermalt von den Klängen Hanns Eislers, ein Massenphänomen lebendig, das für die 1920er-Jahre prägend ist: die fahrradfahrenden Arbeitssuchenden. Nach dem ersten Weltkrieg sind der kleine Mann und das Fahrrad unzertrennlich. Nachdem die Fahrradpreise hauptsächlich wegen der aus der US-amerikanischen Überproduktion stammenden Importe drastisch gesunken sind und sich Besserverdienende dem Automobil als neuem Statussymbol zugewendet haben, avanciert das Fahrrad zum alltäglichen Verkehrsmittel der unteren Schichten.

Das Fahrrad revolutioniert den Alltag. Zum einen erleichtert es die Arbeitssuche, da durch den neugewonnenen Bewegungsradius längere Wege in Kauf genommen werden können. Zum anderen sprengt es die Grenzen der beengenden Arbeiterviertel und ermöglicht die Flucht hinaus ins Grüne, in die Kneipe und später auch ins Kino. Es verändert nicht nur die Fortbewegung, sondern auch die Arbeit selbst. Man trägt damit Blumen und Post aus, verteilt Flugblätter oder fährt zum Plakatieren. Das Fahrrad wird zum Alltagsgegenstand und zur Arbeitsgrundlage. Es löst den Arbeiter und Angestellten aus den klassischen Abhängigkeiten von Arbeitgeber und Arbeitsort und wird zu einer zweirädrigen Freiheitsmaschine, die eine bis dahin ungekannte Mobilität und eine neue Erfahrung von Raum und Zeit ermöglicht.

Zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise, die sich Mitte der Zwanzigerjahre in Form von Geldknappheit und Inflation abzuzeichnen beginnt, brechen die Produktionszahlen der deutschen Fahrradindustrie ein. Zugleich werden die Lagerbestände der Leihhäuser mit Fahrrädern geradezu überschwemmt. Das Leihhaus, so betont ein Betreiber 1925 in einer Rede vor Mitgliedern des Verbands der Pfandleiher Deutschlands in Berlin, ist „gewissermaßen die Lombardbank des kleinen Mannes. Es wird aufgesucht, wenn ihn irgendwie der Schuh drückt [...] und anderweitig Mittel beschafft werden müssen, um die Familie überhaupt über Wasser zu halten.“ Dass statt Uhren und Schmuck nun jedoch Fahrräder verpfändet werden, ist mehr als nur ein Symptom wirtschaftlicher und sozialer Not. Die Fahrräder in den Lagerkammern des städtischen Leihhauses sind Symbole einer verlorenen Freiheit – verloren zumindest auf Zeit.

Diese Geschichte zitieren

“Verpfändete Freiheit – Das Fahrrad im Alltagsleben des kleinen Mannes,” Berliner Grossstadtgeschichten, accessed 11. Dezember 2024, https://grossstadtgeschichten-berlin.de/items/show/923.
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Januar 1926
Fahrräder im städtischen Leihhaus, Berlin 1926, Georg Pahl